Bettina v. Waldthausen
Die taoistische Gewebetafel: Atemaufbau der inneren Gestalt
Kleine Anregungen zu einem persönlichen Umgang
Worum es immer wieder von Anfang an im Atemaufbau geht, ist das Prinzip der Polarität. Wie verbinden sich Gegensätze im Körper? Und wie mache ich den Körper dafür durchlässig?
Über der Behandlungsliege meiner ersten Atemlehrerin Elly Meier-Denninghoff hing eine schmale handbemalte Tafel, etwa 20 x 60 cm hoch. Sie zeigte eine menschliche Wirbelsäule und dazu eine Reihe von eigentümlichen Figuren, Symbolen und Landschaftsbildern, die sich für mich völlig beziehungslos auf dem schwarzen Hintergrund übereinander schichteten, eingerahmt von kleinen chinesischen Schriftzeichen. Das Bild war auf dickes Sperrholz gemalt, eine sorgfältig angefertigte Kopie. Ich fand es anziehend und zugleich verwirrend unverständlich. Auf meine Nachfrage erfuhr ich, dass die Kopie ein Geschenk von Veening war. In den vielen Ruhepausen nach den Atemstunden fiel mein Blick immer wieder auf die Tafel. Ich fing an mich in das Fremde einzuleben. Ich fand erste Bezüge zu den Erfahrungen aus der Stunde. Ich verstand, dass der Ochse wohl etwas zu tun haben musste mit dem unteren Atemraum, dem Wärmen, dem Erden und dem Umpflügen des eigenen Boden. Und ich konnte das Feuerrad in der oberen Mitte mit dem Herzen verbinden. Aber Vieles blieb im Dunkeln und weiterhin verwirrend. Erst als ich in einem Buch von Mantac Chia, einem populären asiatischen Lehrer und Autor des Tao-Yogas der 70er Jahre, eine Beschreibung über die Stationen des kleinen Energie – Kreislauf fand, wusste ich, dass ich auf der richtigen Spur war. Allmählich fügten sich die Bilder wie Puzzlestücke zusammen und halfen mir auf meiner Suche nach einem ganzheitlichen Verständnis von Atem, Körper und Psyche. Die eigene Erfahrung im Umgang mit dem Atem, aber auch Hinweise aus der Literatur, der Lehre der Chakren, der Tiefenpsychologie und der Neurobiologie haben mich dabei beschäftigt. Heute ist mir die bildhafte Sprache der Gewebetafel eine Lehrtafel geworden, wenn ich die innere Anatomie des Atemwegs verdeutlichen möchte. Aus einer solchen Kurz-Lehrstunde ist auch dieser kleine Text entstanden, der eine Abschrift eines Tonbandmitschnittes ist. Er ist in keiner Weise vollständig. Zum besseren Verständnis sind einige Stellen nachträglich ergänzt worden.
Der Atemaufbau ist wie eine Bach-Fuge, bei der unten an der Basis das Thema als Kontrapunkt schwingt und sich mit der oberen Stimme in immer neuen Modulationen und Schwingungsbildern vereint. Der Ton breitet sich aus, er schwingt in unzähligen Verfeinerungen und Varianten von unten nach oben und wieder abwärts. Man kann sich so ein Schwingungsbild auch für den inneren Atem vorstellen. Der Körper mit den Knochen und Organräumen wird dabei zum Resonanzboden. Und der Atem, der die Räume füllt und belebt, überträgt seine Schwingung in jede einzelne Zelle und berührt sie tief innen. Wir nennen das Zellatmung.
Wunderschön sind auf dem Gewebebild die drei Räume dargestellt. Der untere Raum, den wir aus der Atemarbeit als den Platz der persönlichen Ich-Kräfte kennen mit dem Nabelzentrum als Mitte, wird hier dargestellt durch den Pflüger, der mit seinem Ochsen den Boden pflügt. Hier wird erst einmal der Boden des Unbewussten umgegraben, genährt und verstoffwechselt. Dieser Raum, der nach oben bis zum Organgürtels unterhalb des Zwerchfells reicht, ist der Ort unseres leib-seelischen Verdauungssystem, und hier wird ausgeschieden, fermentiert und gereinigt, was später gewandelt werden soll. In den Räumen oberhalb des Zwerchfells finden wir dann nach der antroposophischen Menschenkunde das seelisch-geistige Prinzip mit dem Herz – Lungenraum und daran angeschlossen die Kehle mit dem Kopfraum und den Sinnes – und Bewusstseinskräften. Jedes einzelne Prinzip ist hier dem andern zugewandt und durchdringt und befruchtet sich. Kein Raum ist von dem anderen getrennt.
Das führt mich zu dem Prinzip der Entsprechungen: dass wir manchmal im oberen Raum z.B. an den Schultern etwas zu lösen versuchen, aber trotz all unserm Bemühen geschieht dort nichts. Wir gehen dann zu einem Gegenüber, beispielsweise zu den Füßen. Und ohne etwas zu wollen, absichtslos und zugleich in voller Präsenz der beiden Schultern sprechen wir diese Füße nun mit der Hand an. Dann kann sich mit einem Mal über den Atem etwas da unten lösen, sozusagen stellvertretend zu dem, was im oberen Raum gelöst werden wollte. Es ist ein Mit-Einander, das Gegensätze verbindet und Entsprechungen zusammenführt. Wenn wir dieses Miteinander der Gegensätze so wie in der Bachfuge beachten und dabei dem eigenen Atemaufbau folgen, führt uns das in die innere Ordnung. Unser Denken und Fühlen geht dann zusammen, und das erzeugt auch im andern ein ähnliches Resonanzfeld des Ordnens. Wenn zwei solche Felder zusammen schwingen, ist das eine fühlbare Verstärkung. Dann kann das entstehen, was so schwer benennbar ist – eine Art Kräftigung und Freude aus einer Quelle, die aus der Seele zu kommen scheint.
Der Garten der Emotions – und Gemütskräfte
Wie oft geschieht es uns aber, dass wir uns für durchlässig und anwesend halten. Aber das Zwerchfell – auf der Gewebetafel hier als Garten gezeichnet – ist noch ganz unbewusst und unflexibel. Wie geht es, dass dieses Zwerchfell lebendig und weich in die Bewegung kommt, so dass ich bei mir bin, nicht überaktiv und auch nicht vorpresche wie ein junges Pferd, eher bleibe wie ein klarer bewegter Fluss?
Wir bezeichnen die Gefühle, die im Organbereich unterhalb des Zwerchfells liegen, als Emotionen. Sie wollen von uns gelebt und geliebt werden, lebendig erfahren werden. Wir sprechen als Beispiel von der Trauer oder der Fröhlichkeit oder der Klarheit in der Niere oder der Melancholie oder der Wärme in der Leber. Jedes Organ hat da seine Eigenschaften und seine eigenen Lebendigkeit, die individuell erfahren und erkannt werden muss. Die gelebte Emotion ist sprudelnde Kraft. Vom Gemüt und den Gemütskräften sprechen wir, wenn das Zwerchfell, unser Garten, nach oben durchlässig wird und anfängt zu blühen, dann,wenn die Gefühle sich mit dem Herzen verbinden. Ich würde das zwar nicht gleich direkt mit dem Herzen verbinden, dass wäre vielleicht zu viel Energie, die dann vom Solarplexus nach oben steigt. Man könnte z.B. erst den Weg der Rückbindung der Gemütskräfte über die Nieren nehmen und danach den hinteren Punkt des Herzens zwischen den Schulterblättern ansprechen – oder den Vaguspunkt, der etwas darüber an der Wirbelsäule liegt. Da wird das Herz noch freier, weil der Vaguspunkt als Teil des autonomen Nervensystems sofort auch auf den Atem reagiert. Der Vaguspunkt belebt auch spürbar die Lungenflügel, die das Herz in ihrer Mitte tragen. Von unten können ihm die gewandelten Gemütskräfte zufließen und von oben die Erkenntnis – oder die Bewusstseinskräfte des oberen Raumes. So kann sich dort eine neue Mitte bilden im Herz-Lungenraum. Das eine braucht das andere. Spüre ich von der Nabelkraft aus ins Zwerchfell, ist das eine persönliche Kraft, die ich zum Leben brauche, aber auch zurücknehmen kann. Spüre ich vom Gemüt aus in das Zwerchfell, ist es ein ruhendes Wahrnehmen, eine tiefe und stille Wahrnehmung, an der auch das Herz beteiligt ist.
Wenn wir an einem stillen See sitzen und sehen die Spiegelungen auf dem Wasser und kontemplieren diesen Moment, dann spricht unser Gemüt zu uns.
Die Emotionskräfte drücken sich eher durch die Triebkraft und durch die Instinktkräfte aus, und das Kreuzbein als großes schöpferisches Zentrum gehört dorthin. Auf der Gewebetafel ist es feurig gezeigt und ist verbunden mit der unteren Wirbelsäule. Das Feuer als ein Zeichen der lebendigen Lebenskraft. Durch Hineinspüren, Hineinhören, Tönen, durch Bewegungsbilder oder durch das Erzeugen von Ton-Mandalas können wir das Kreuzbein anregen und es in ein Gegenüber zum Nabel bringen. Es braucht auch hier das Zusammengehen der Polaritäten, von oben und unten, von Vordergrund und Hintergrund, um an die lebendige Kraft zu kommen. Das Herz sucht dann die vertikale und die horizontale Weite und die Sammlung im Kreuzespunkt der Mitte, die alles zusammenhält: Seinskraft, Sinnkraft und soziale Beziehungskraft. So kommt das Ich zusammen mit dem Selbst und kann sich in dieser neuen Beziehung auf eine neue, ganzheitliche Weise entfalten zwischen Ich und Du. Liebe kann ich aus dem Ich empfinden oder aus dem Selbst, dem Aspekt des Grossen Ganzen. Das ist etwas ganz anderes.
Der obere Raum
Und wie kann sich diese Herzkraft zum Kopfraum verbinden? Von unten stützen die Nieren das Herz im Atemaufbau und geben ihm Sicherheit und Entlastung. Und jetzt kommt oben der Beobachter dazu. Er sitzt zwischen den Augenbrauen, hier ist es die Gestalt des Laotse. Er schaut aus der inneren Anwesenheit in den Körperraum hinein, was sich dort zeigt. Nicht urteilen, nichts sehen w o l l e n, nichts sehen zu müssen. Und aus dieser wunderbaren Entlastung, nichts sehen zu müssen, kann etwas Neues entstehen, etwas, das wir noch gar nicht wissen. Dieses Tun im Nicht Tun ist jedoch nicht Nichts Tun. Es ist ein weiches Schauen nach innen, klar, ohne Absicht. Und nun können wir die Nasenwurzel in die Präsenz nehmen, so dass der Atemfluss, der von hier ausgeht, auch das Hinterhaupt ernährt – wie eine sich öffnende Hibiskusblüte, die nach innen blüht. Das führt zur Anregung der Hypophyse und des Hypothalamus, unseres vegetativen Steuerungssystems. Zum Abschluss die kleinen Belüftung über dem Scheiteldach, dem kleinen „Ort der Freude“, wie ich ihn nenne, dort wo auf der Bildtafel die kleine runde Kugel oben über den Berggipfeln des Scheiteldachs zu schweben scheint. Sie schwebt aber nicht. Sie steht im exakten Gleichgewicht zur Tiefe, wo das Wasserrad von den beiden Yin-Yang Zwillingen, unseren polaren jungen Lebenskräften, nach hinten bergaufwärts gedreht wird. Und die (virtuell gedachte) Mittelachse, die von der Bergkugel nach unten lotet, läuft in der Gewebetafel direkt durch die Mitte der Herzspirale. Wir sehen: auch hier geht es wieder um das Gleichgewicht der Kräfte und um die in uns angelegte Harmonie der Achsen.
Die vier Qualitätsebenen des Herzen
Das menschliche Herz ist ein Rhythmus-Wahrnehmungs- und Wandlungsorgan, das einen menschlichen und einen kosmischen Bezug hat. Es steht für die Erhaltung des Lebens schlechthin und ist das zentrale Organ der Blutversorgung. Der Bezug zum kosmischen Herzens ist auf der Gewebetafel durch das Sternbild des grossen Bären dargestellt, das der „Herzknabe“, der in der Mitte der Herzspirale steht, als eine Art schwingendes Seil in seinen Händen hält. Das geistige – oder himmlische Herz, wie es im „Geheimnis der Goldenen Blüte“ genannt wird, ruht zwischen den Augenbrauen, dort wo hier Laotse sitzt. Dort heisst es: Das himmlische Herz liegt zwischen Sonne und Mond, (Wilhelm 1971 S.77) das bedeutet zwischen den beiden Augen. Wenn der Beobachtende von dort in die Tiefe zu hören vermag und die Quellkräfte von unten zum Herzen aufsteigen, erfahren wir dies als mitfühlende lebendige Mitte unseres seelischen Herzen, in dem sich Geist, Gemüt und die gewandelte Quellkräfte vereinen. Das Herz ist aus medizinischer Sicht ein tief soziales Organ, denn es gibt den größten Teil des Sauerstoffs, den seine Gefäße transportieren, ab an die andern Organe. Es dient wirklich in einem sozialen Sinn den Organen.
Wenn wir mit dem Inneren Atem arbeiten, beschenkt uns diese Arbeit immer wieder unerwartet mit Bildern und Einsichten und führt uns in die innere Ordnung. Wir sollten uns aber erinnern, dass auch Bilder und Vorstellungen nur Ausdruck einer ständigen Bewegung und Wandlung sind. Vielleicht kennen einige die Photos des Japaners Emoto. auf denen gefrorene Wasserkristalle in der Ordnung und in der Unordnung zu sehen sind. Ordnung hat immer eine Mitte, die zerfällt, wenn die Ordnung zerstört wird. Die Chaos-Forschung zeigt uns jedoch, dass Zerstörung immer auch Geburt zu neuem Leben ist. Die großen Maler und Künstler aller Kulturen und Epochen kannten diese Zusammenhänge, und wenn wir lang genug ihre Bilder kontemplieren, können wir vielleicht in Resonanz zu diesem altem, modernen Wissen treten.
Bettina von Waldthausen